Daldossi oder das Leben des Augenblicks : Roman

Gruber, Sabine, 2016
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Medienart Buch
ISBN 978-3-406-69740-1
Verfasser Gruber, Sabine Wikipedia
Systematik DE - Prosa
Schlagworte Journalismus, Österreichische Gegenwartsliteratur, Kriegsfotografie, Flüchgsthematik, Krisenherde
Verlag C. H. Beck
Ort München
Jahr 2016
Umfang 315 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Sabine Gruber
Annotation Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Evelyne Polt-Heinzl;
Der Krieg und die Fotografen
Sabine Grubers "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks"
Am Beginn des neuen Romans Daldossi oder Das Leben des Augenblicks, so Sabine Gruber, stand ihr Ärger über die häufige "Vorverurteilung von Kriegsreportern" als "gefühllose Actionjunkies" und "sensationsgeile Abenteurer", auch aus persönlicher Betroffenheit über den Verlust eines in der Kriegsberichterstattung tätigen Freundes. Das Thema ist so vielschichtig wie die im Roman entwickelte Lebensgeschichte des Kriegsfotografen Bruno Daldossi.
Viele Jahrzehnte war er an allen sogenannten Hotspots des internationalen Kriegsgeschäfts unterwegs, hat fast jede Krisen- und Hungerregion bereist und auftragsgemäß ein Maximum an spektakulären (Sterbe-)Szenen und Gräueltaten aller Art mit der Kamera festgehalten. Seine Bilder erhielten zwar keine großen Preise, eine unausgesprochene Lebenskränkung, aber sie erschienen in einem renommierten Hochglanzmagazin und wurden in Ausstellungen gezeigt. Vor allem aber haben sie sich unheilbar in seinen Kopf eingegraben und im Lauf der Jahre einen unbeschwerten Zugang zur Realität daheim, in Wien, verunmöglicht. Was kümmert jemanden das Problem der Mülltrennung, der gerade von einem Massaker in Ex-Jugoslawien kommt oder aus der Hungerkatastrophe im Südsudan? Nun ist er zudem in die Jahre gekommen, hat den Job beim Magazin verloren, und seine Freundin Marlies, die es bewundernswert lange mit ihm ausgehalten hat, scheint endlich einen liebevolleren Partner gefunden zu haben. Er, der von sich glaubt, aus Empathie mit den Opfern Kriegsfotograf geworden zu sein, hat Empathie im Privaten längst verlernt. Er glaubt Marlies zu lieben, doch eigentlich braucht er sie nur als Verbindungssteg zum zivilen Alltag. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die erlittenen und unaufgearbeiteten Traumata der zahllosen durchlebten Gefahrensituationen selbst mit immer intensiverem Alkoholkonsum kaum mehr in den Griff bekommen lassen.
Sabine Gruber inszeniert diesen permanenten Erinnerungswirbel mit einer wilden Abfolge von Flashbacks, oft genügt Daldossi ein Wort, "um den Ort zu wechseln" und wieder in einem der Krisengebiete "aufzuwachen". Dazwischengeschaltet sind Beschreibungen konkreter Fotos, die in ruhigem Ton die Geschichte der abgebildeten toten, verwundeten und verstörten Menschen erzählen, es sind Fotos aus den Krisengebieten der Welt, die man alle so oder so ähnlich schon gesehen zu haben glaubt.
Der Roman zeigt die tiefen Verletzungen Daldossis und seiner Kollegen und auch ihre inneren wie äußeren Widersprüche. Fast alle sind alkoholkrank; das war, wie mehrmals erwähnt wird, auch Daldossis Vater, ohne dass auf dessen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg eingegangen wird. "Wir haben diese Reaktionen verinnerlicht", verteidigt sich Daldossis Kollege Schultheiß, nachdem er seine Frau bei einem harmlosen Knall zu Boden gestoßen, sich schützend über sie geworfen und ihr dabei das Bein gebrochen hat. Es wird im Roman nicht ausgeführt, und auch Daldossi scheint es nicht zu denken, aber man könnte das als Aufforderung interpretieren, Schicksal und Verhalten der eigenen Soldaten-Väter in einem neuen Licht zu sehen.
Daldossi wirft seinem langjährigen Reporterkollegen Schultheiß vor, dass er riskante Momente vermieden und lieber von Augenzeugen Berichtetes berichtet habe, nicht ohne sich dann die Heldentaten selbst zuzuschreiben, während es ihm stets darum gegangen sei, "das Schicksal der Leute zu teilen". Das tat er natürlich keineswegs, oder allenfalls für Augenblicke oder für einige Tage, in einer Gefechtsstellung oder einer Belagerungssituation. Die Aufgabe des Kriegsfotografen ist schließlich, möglichst rasch möglichst spektakuläre Bilder von unterschiedlichen Schauplätzen zu liefern und nicht, der betroffenen Bevölkerung zu helfen. Auch das ist eine Belastung, die sich mit dem Konstrukt, durch die Fotografien den Opfern ein Gedächtnis zu bewahren - "Es ging um deren Würde", wie es einmal heißt - nur unzureichend abfedern lässt.
Vor allem aber, und das zeigt Sabine Gruber wie nebenbei: Ein Leben im verrohten Kontext des Kriegshandwerks, und sei es nur als Beobachter mit der Kamera in der Hand, hinterlässt untilgbare Spuren. Man sieht die Atmosphäre deutlich vor Augen, in der die Kriegsreporter in den Lobbys heruntergekommener Hotels am Rande der Zivilisation bei hohem Alkoholkonsum die oft stark sexualisierten Anekdoten und War Legends austauschen. Und man kann dann beinahe verstehen, dass Daldossi später in der gemeinsamen Wohnung mit Marlies ihre Abwesenheit nutzt, um sich mit einem Girl des Escortservices zu vergnügen. Erzähltechnisch dient diese Episode dazu, mit dem Schicksal dieser Prostituierten aus dem Osten und ihrer Kollegin aus Nigeria das aktuelle Migrationsthema einzuspielen, wobei die Integration dieses Erzählstranges vielleicht nicht ganz überzeugend ist, samt dem imaginierten Happyend in der Erzählzukunft. Präsent ist das Migrationsthema in jedem Fall, denn gegen Ende reist Daldossi nach Lampedusa, um hier nach einem gescheiterten Versöhnungsversuch mit Marlies die Ex-Frau eines Kollegen zu treffen, die vor Ort für eine Story über Bootsflüchtlinge recherchieren soll.
"Diese Frauen wüßten nicht, was sie anrichteten, sie träfen aus einem abgesicherten Leben heraus Entscheidungen und berücksichtigen nicht den Umstand, daß ihre Männer in der Schußlinie standen." Das sagt Schultheiß, nachdem ihn seine Frau verlassen hat, und das thematisiert ein weiteres unauflösbares Problemfeld. Dass Kriegsberichterstatter zwangsweise das Risiko suchen und mit ihm leben müssen - erwächst den anderen, etwa ihren Partnerinnen, daraus automatisch die Schuld, das Risiko und Elend nicht aufzusuchen? Desavouiert es die "sogenannten Mitfühler und Mitfühlerinnen", wie Daldossi das empfindet, und entwertet es die Arbeit seiner Freundin, die im nicht namentlich genannten Bärenwald in Arbesbach aus unglück­lichen Bären glückliche zu machen versucht? Auf Lampedusa verteidigt Daldossi seine Idee, baden zu wollen, schließlich sei Lampedusa "inzwischen überall. Sie ertrinken auch vor Malta, vor Sizilien, vor der lybischen Küste und zwischen der Türkei und Griechenland." Vielleicht soll das einen beginnenden Heilungsprozess anzeigen, denn genau gegen diese pragmatische Haltung, trotz allen Elends in der Welt das eigene Leben samt seinen Luxusproblemen annehmlich zu gestalten, hat er bislang rebelliert.
Nur was Sex betrifft, hat Daldossi das immer schon anders gesehen. Sex war für ihn stets "eine Form von Selbstrettung gewesen, er hatte ihn vieles, auch Mißerfolge, vergessen lassen. Inzwischen war der Sex selbst mehr und mehr zu einer Niederlage geworden." Und auch das ist Sabine Grubers Roman: eine Auseinandersetzung mit der Krise des Männer-Bildes, denn gerade in Berufen, wo ein Held noch ein Held, ein Mann noch ein Mann sein kann, stellt Altern ein besonderes Problem dar.

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Quelle: Pool Feuilleton;
Ein Leben nach dem Konzept des Augenblicks geführt hat den Vorteil, dass immer etwas los ist, und den Nachteil, dass nichts Zusammenhängendes passiert. Helden des Augenblicks müssen nach einer gewissen Zeit feststellen, dass sie nur zerrissene Flunsen einer Seite sind, nie aber ein größerer Text.
Sabine Gruber stellt ihren Helden Bruno Daldossi in die Schredder-Anlage des Augenblicks. Er ist Kriegsberichterstatter und überall zu Hause, wo etwas in die Luft geht. Gleichzeitig geht ihm aber das Wertvollste verloren, seine Lebensliebe zur Partnerin Marlies löst sich eines Augenblicks auf w 108a ie eine abgedroschene Story.
Neben den Ereignissen, die letztlich den Kriegsfotografen auf den Plan treten lassen, sind es vor allem die Wechselspiele eines heldenhaften Quartetts, die eine Art Ordnung in das Erlebnischaos bringen. Daldossi ist eine Zeitlang dienstlich mit dem Kollegen Schultheiß unterwegs, der eine sehr vorsichtige, um nicht zu sagen feige Form der Kriegsberichterstattung pflegt. Dessen Ex-Frau Johanna arbeitet als Journalistin, und knüpft unerwartet eine Beziehung zu Daldossi, nachdem dieser von Marlies verlassen worden ist.
Der Roman schafft es mit raffinierten Methoden, ständig das Pixel des Augenblicks mit dem Lichtstrahl der Ewigkeit zu verbinden. Das Heldenquartett ist ständig in Bewegung zueinander und voneinander. Immer wieder halten Telefonanrufe und SMS die Gefühle auf Trab, nichts ist letztlich abgeschlossen, alles könnte ein vorläufiger Einsatz sein.
In einer eigenartigen Unwucht dauert das erste Kapitel knappe fünfzehn Seiten, darin lernen die beiden Kriegsjournalisten, wie man sich im echten Einsatz in einem Minenfeld bewegt und wo die Gefahren des echten Krieges lauern. Im restlichen zweiten Kapitel hilft diese Übung aus dem Trockendock, aber das wahre Leben hält sich selten an die Übungsvorgaben.
Schultheiß nennt dieses Leben zwischen echt und Übung einmal "Graurauschen" (27), darin werden die Erlebnisstrukturen amorph, am Schluss lässt sich dann gar nicht mehr genau sagen, worum es geht.
Aufwühlende Klarheit verschaffen hingegen die sogenannten Kriegsbilder, die alle Handvoll Seiten im Text auftauchen. Darin wird eine Szene aus dem Desaster beschrieben, ein beinahe hörbarer Klacks macht durch Überschrift ein Foto daraus, und am Schluss wird erwähnt, wo das Bild erschienen ist. Das ist ja die Aufgabe dieser Helden, die Welt zu fotografieren, um sie anzuhalten. (258)
Solange es Kriege gibt, gibt es für diese Art des Lebens kein Ende. Daldossi trifft sich mit Johanna auf Lampedusa, er kriegt bei der Anfahrt Herzrasen und sie das Kotzen. Bald gehen sie getrennte Wege, sie fliegt heim und er chartert ein Boot, um Richtung Libyen zu fahren. Einmal will er etwas Handfestes tun.
In einer Danksagung verknüpft Sabine Gruber diesen aufwühlenden Roman mit Gabriel Grüner, dem größten Journalisten, den Südtirol neben Claus Gatterer hervorgebracht hat. "Doldossi" wird dadurch zu einem Stück Gedächtnis, stärker als ein Roman, stärker als die Wirklichkeit!
Helmuth Schönauer

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