Die Farbe des Granatapfels : Roman

Baar, Anna, 2015
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Medienart Buch
ISBN 978-3-8353-1765-9
Verfasser Baar, Anna Wikipedia
Systematik DE - Prosa
Schlagworte Kindheit, Dalmatien, Gastarbeiterkinder, Migrantenschicksal, Liebe und Versöhnung
Verlag Wallstein-Verl.
Ort Göttingen
Jahr 2015
Umfang 319 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Anna Baar
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Cornelia Stahl;
Die Zerrissenheit eines Mädchens beim Aufwachsen zwischen zwei Welten. (DR)
Anna Baar schildert in ihrem Roman das Aufwachsen eines Mädchens zwischen zwei Welten. Da ist die Welt des Vaters und die Vatersprache in Österreich und die Welt der Großmutter und deren Sprache auf der kroatischen Insel Brac. "Wen liebt Nada am meisten? Das Kind schwieg. Sie dann mit freundlicher Schärfe: Sag: Mich! Das Kind wider Willen: Mich!" Dieser Textauszug spricht für sich: ein Kind, das sich zwischen der Liebe der Eltern und der der Großmutter entscheiden muss. Das clevere Mädchen, das bei der Großmutter aufwächst, während die Eltern in Österreich arbeiten, jongliert geschickt zwischen den verschiedenen Sprachen, nutzt Situationen, in denen es vorgibt, die fremde Sprache nicht zu verstehen.
Die Lyrikerin Anna Baar, geboren 1973 in Zagreb, studierte Publizistik und Theaterwissenschaften. 2015 las sie beim Klagenfurter Bachmannpreis. Abseits des Mainstreams greift Baar aktuelle Themen wie Heimat, Integration und Zugehörigkeit auf. Schwierigkeiten, die das Mädchen in beiden Welten erlebt, werden nicht schöngeredet. Das Buch eignet sich ausgezeichnet, um die angesprochenen Themen zu diskutieren, und ist allen Büchereien zu empfehlen.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Klaus Zeyringer;
Das andere Land
Anna Baar über das Heranwachsen in Dalmatien und Österreich
Wieder eine Kindheit. Von den eigenen frühen Jahren haben alle zu erzählen. So folgt die Literatur den Generationen. Von den späten Sechzigern bis in die achtziger Jahre waren es den Autorinnen die autoritären Bedrückungen einer Schwarzen Pädagogik, die Klosterschule bei Frischmuth und die Züchtigung bei Mitgutsch. Dann die verschwiegenen Verbrechen, die wortlose Mutter in Elisabeth Reicharts Februarschatten, der Missbrauch der Tochter in Elfriede Czurdas Kerner, die Erfahrungen des Fremdseins bei Marie-Thérèse Kerschbaumer. Und nun schildern Frauen, deren Eltern aus der Nach-68er-Generation geschäftig tätig oder freiheitssuchend unterwegs waren, ihre Kindheit an Hand und Sprache der Großmütter.
Diese Prosa holt aus der Gegenwart in die Vergangenheit aus und deutet von beiden Zeitebenen in die Zukunft. So gesehen trifft das ausgiebig zitierte Diktum, das Josef Winkler aus seiner privaten Bekanntschaft mit der Autorin hymnisch lobend über das Debüt von Anna Baar geäußert hat, für alle diese Kindheitsbücher zu: Dies sei "keine Gegenwartsliteratur, sondern Zukunftsliteratur".
In ihrem Roman Die Farbe des Granatapfels folgt die 1973 in Zagreb geborene, in Wien und Kärnten und auf einer dalmatinischen Insel aufgewachsene Anna Baar offenbar den eigenen Erfahrungen. Ihre Protagonistin Anna verbringt die Sommer bei der Großmutter Nada auf Bra?, die Eltern weilen im anderen Land, in "Esterraich", wie Nada sagt, die böse Erinnerungen an die "Ibermenschen" hat. Im ersten der vier Teile des Romans erschließen sich langsam Hintergründe und Zusammenhänge, während die Zeiten auf der Insel mit Dauer der Lektüre redundant erscheinen, wiederholt die Bora und die Muschelschalen am Strand, die besitzergreifende Liebe und die Dämonen im Dunkeln, die "Baba Roga", die Kinder heimsucht und ihnen den Lebensatem nimmt.
Die zwei Kulturen und Sprachen der Eltern treffen im Kind aufeinander, mit den Worten der Großmutter und der "hohen Sprache" im "Vaterland" - für Nada die "Mörderzunge". Sie hatte als Partisanin gekämpft und erfahren müssen, dass ihre geliebte Schwester von den Deutschen erschossen worden war.
Zunächst treibt weniger eine Ereigniskette als die Sprachmacht den Roman voran. Die erwachsene Ich-Erzählerin sitzt mit der Großmutter rauchend auf der Veranda, die Bora rauscht, es bewegt sich die Erinnerung, in der "Anuschka" ihre frühere Gestalt aus der Distanz im Neutrum als "das Kind" schildert. Jede Reise von Wien und Kärnten über die Grenze bedeutete einen Übertritt in die andere Sprache. Das Kroatische (im Roman nie so genannt) dringt mit Nadas Sätzen in das Kind und in den Text, andererseits bedeutet im "Vaterland" die "hohe Sprache, die doch nur eine hohe Sprachlosigkeit war
mit ihrem Nichtvordenkindern und Dassagtmannicht und Dastutmannicht, eine Sprache der Teilnahmslosigkeit", bemerkt Anna, die sich ab dem dritten Teil "Minderjahre", nachdem "das Kind" herange­wachsen ist, durchgehend als Ich erzählt. "Das Hinundher ist mir zur Gewohnheit geworden", immer auch "ein Übertritt in eine andere Wirklichkeit". Nun habe sie die Kindheit "wie eine Eihaut" abgestreift und es falle immer schwerer, Großmutters "Liebe zu schultern".
So gelingt Anna Baar die eindringliche Geschichte einer schwierigen gefühlsstarken Beziehung, das starke Porträt einer kroatischen Frau und das zusammengesetzte Panorama eines Heranwachsens, zugleich eine Sprachreflexion. Dass ihre Prosa anfangs zu dick aufträgt, kann als Reflex der Situation gelten. Dennoch irritieren im ersten Teil bemühte Effekte und Überfülle, so poetisch sie auch klingen mögen: Der Sturm "fegt die guten Schiffe in den Hafen und zermalmt die schlechten an Molen und Klippen oder wälzt sie in die Schlünde der Wasserwirbel", die Bora bewirkt "polternde Spukschatten, die an allem Flüchtigen die Klauen wetzen", "unter dem Brustbein schwelt Ekel", ein "Blick oszilliert", Brote sind "schokolademünzendick bebuttert". Das ist elaboriertes Geklapper, das mitunter zu vergeheimnissen sucht, aber zur Leerformel gerät: "Als die Zeit noch lang war, schien alles schon getan." So sehr auf die literarische Tube zu drücken, das lässt an eine jüngst grassierende Metaphernsucht denken, die besonders in Graz von Setz und Fritsch offenbar als Ausdruckssignal künstlerischer Genialität gepflogen wird. Das ergötzt - wenn es präzise ist. Eine sprachmächtige Autorin, wie sie Anna Baar zweifellos ist, dürfte unreflektiert keiner unlogischen Phrase aufsitzen. Zweimal verwendet sie den Ausdruck "wie durch ein Wunder": Entweder glaubt man, etwas sei ein Wunder, oder nicht; in beiden Fällen kann ein Vergleich nicht stimmen.
Davon und vom eher kitschigen, unpassenden Titel abgesehen, bietet Die Farbe des Granatapfels einen interessanten Einblick in das, was Sprache vermag. Beide Regionen dieses Heranwachsens sind voller Sprichwörter und Erziehungssätze. Was Wörter sagen und nicht sagen, vermittelt die Antwort von Nada auf die Frage, wann denn die Mutter komme. Das "Bald" steht dem Kind "niemals für die rechte Zeit". Und Koseworte erweisen sich als besitzergreifend: "Dumeineinundalles, Dumeinganzesglück!, bis mir schwarz vor Augen war." Dazu die Feststellung, dass sich nicht alles in Worte fassen lasse. Nicht nur für das Meer gelingt dies Anna Baar freilich auf beeindruckende Art: "Wenn die Zikaden verstummten, wurde das Meer manchmal ganz flach. Dann schien es zu atmen, wie es in ruhigen Zügen den Strand leckte und leise gurgelnd die ausgehöhlten Felsbrocken flutete, ein Klatschen, wenn der Rumpf einer Barke auf dem Wasser anschlug, das Geflüster der kullernden Kiesel, die dem Lockruf der Strömung folgten." Da stimmt jedes Wort.
Mit ihrem ansprechenden literarischen Konzept schafft es Anna Baar, die schwierige Konstellation zweier sprachlicher und sozialer Welten nahezubringen. Die Erinnerung an die auf Deutsch kommandierten Kriegsgräuel ist bei alten Leuten in Dalmatien lebendig. Nun kommt dieses Deutsch mit den Touristen wieder, während man eine slawische Sprache in Kärnten in ihrer garantierten Stellung behindert und Nadas Landsleute als "Gastarbeiter" gerin f38 gschätzt. Der soziale Hintergrund bleibt zwar im Roman auch im Hintergrund, blitzt allerdings mitunter deutlich auf.
Gesellschaftlich konkreter wird der Text mit dem Heranwachsen des Kindes. In der Mitte des zweiten Teils informiert die Mutter über Titos Tod, im vierten kommen die Flüchtlinge vor den Jugoslawienkriegen nach Österreich. Und Anna fragt nach den von Titos Truppen nach Kriegsende 1945 Umgebrachten: "Was war in Bleiburg, Nada?" Die Antwortformel der Großmutter kennt man auch von österreichischer Seite: "Wir wussten es nicht." Dann spricht Nada von ihrer Partisanenzeit.
Gegen Ende des Romans sind die in den Text eingestreuten Kurz­dialoge Aufforderungen zum Erzählen, zuvor sind sie meist Vergewisserungen von Liebe und Zugehörigkeit. Damit und mit passenden Wiederholungen gibt Baar ihrer Prosa ein Strukturnetz, Fixpunkte im Erinnerungsgleiten: "Vielleicht denke ich" beginnen mehrere Absätze hintereinander im ersten und dritten Teil, "Das Kind erinnert sich" im zweiten und "Wie liebte ich sie" im vierten.
Wie andere Autorinnen ihrer Generation stellt Anna Baar das schwierige Hineinwachsen in die achtziger, neunziger Jahre dar, als neue Ordnungen auf den alten Fundamenten entstanden. Ihr Roman setzt sich am intensivsten mit der Konstruktion von Erinnerung, von Sprachwelten sowie mit der Frage der Herkunft und des eigenen Ortes für ein entstehendes Ich auseinander. "Das Fremdsein blieb unvermeidlich, hier wie dort", zumindest ein Teil des Ich bleibt immer im anderen Land. Als Anna in Wien Slawistik studiert, lauten die üblichen Fragen, ob sie "muttersprachig" sei und "Woherkommstdu?": "am liebsten Nirgendwoher, wenn ich ohne Bedenken wäre, dass meine Wahrheit auf jene Wahrheit passt, die gemeinhin als die einzige gilt, und am liebsten Von dort und da - doch wer beides will, steht am Ende mit nichts da." So ist das Land der Kindheit "kein wiederfindbares Paradies".

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